Die Tische sind ordentlich in Reih und Glied hintereinander aufgestellt. Alle tragen Masken, die Fenster sind auf. Ich lege die Klassenarbeitsblätter verkehrt herum auf die Tische.
‚Jeder der etwas trinken möchte, holt bitte die Flasche aus dem Rucksack. Smartphones aus und ab in die Tasche‘
Ich gebe weitere Anweisungen und lasse das Arbeitsblatt umdrehen.
Hendricks Hände zittern. Hendrick ist groß mit intelligenten, wachen Augen. Er wird von allen respektiert und geschätzt. Er muss sich sehr konzentrieren, seine Hände ruhig zu halten. Meine Klasse beginnt zu schreiben. Mathematik, quadratische Funktionen. Nicht gerade das beliebteste Thema – in keiner Klasse.
Ich höre das Ticken der Uhr und das Kratzen der Kullis. Ich entspanne und lasse die Ruhe auf mich wirken. Lola luckt zur Nachbarin und merkt, dass ich sie direkt anschaue. Ihr Blick huscht wieder auf ihr eigenes Blatt.
Klausuren schreiben kennen wir alle
Eine typische Situation, wie wir sie alle schon hundertmal erlebt haben, entweder vor oder hinter dem Pult. Punktuelle Leistungsabfragen, Klausuren, Klassenarbeiten – drei bis fünfmal im Jahr, in jedem Schulfach. Wir kennen es alle, dieses Emotionsgemisch aus starker Konzentration, Freude am Thema und … Angst. Einige hassen es, einige lieben es und einige lassen es über sich ergehen, weil es so sein muss.
Ich kann von vorne unter die Tische schauen. Robert hat sein Smartphone in der Hand.
Gefühlt ist der Leistungsdruck und die Angst bei meinen Schüler:Innen nach dem vierten Corona Lockdown im Sommer 2021 stark. Dies ist die erste Mathematikklassenarbeit seit einem Jahr. Während der Lockdowns durfte ich Ersatzleistungen schreiben. Außerdem gestehe ich mir und meiner Klasse ein, dass ich die Anforderungen während der Lockdowns angepasst habe – angepasst an die häuslichen und digitalen Widrigkeiten.
Angepasst an junge Menschen, die nicht wissen wie man einen Tagesablauf strukturiert, die nicht wissen, wie man sich selbst zum Lernen motiviert, die nicht wissen, wie sie Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess übernehmen. An junge Menschen, die vergessen haben, das Lernen das ureigene Streben jedes Einzelnen von uns ist. Dass Lernen Spaß macht. Hier spreche ich nicht von allen Menschen aus meinen Klassen. Aber von vielen.
Ich habe meine pädagogische Freiheit ausgenutzt, wohlwissend, dass ich es mit meiner Klasse später wieder ausbaden muss. Dass die Anforderungen der Klassenarbeiten in Klasse 9 größer sein werden als die während des Lockdowns in Klasse 8.
Robert hat sein Smartphone in der Hand
Und nun hat Robert sein Smartphone in der Hand. Ich könnte zu ihm gehen, ihm seine Klassenarbeit und sein Smartphone entwenden, ihn des Raumes verweisen und später mit dem Direktor sprechen. Diese Macht habe ich. Erschreckend.
Ich entscheide mich gegen diese Macht. Und schaue ihn nur an. Er bemerkt meinen Blick und starrt glasig zurück. Er packt das Smartphone wieder weg und schreibt weiter. Ich lasse ihn weiterschreiben.
Die ersten Schüler:innen geben ihre Arbeit an und verlassen erleichtert den Raum.
‚Warte bitte auf mich‘. Robert gibt seine Arbeit ab, packt seine Tasche und bleibt sitzen. Er wartet darauf, dass alle seine Kameraden und Kameradinnen den Raum verlassen. Er wartet auf ein Gespräch mit mir. Ein Gespräch über das Smartphone unter seinem Tisch. Die Klasse ist leer, ich schließe die Tür und setze mich ihm gegenüber.
Was war los?
`Was war los?` Er zuckt die Schulter, schaut aus dem Fenster und spricht. Er spricht von zwei Tests in der Woche, einen in Latein und einen in Chemie, von einer Klassenarbeit in Englisch und einem Referat Anfang der Woche. Er spricht davon, dass er vor zwei Jahren eine Klasse übersprungen hat, dass er immer sehr gute Noten hatte und seine Mutter es gewohnt sei gute Noten von ihm zu sehen. Wenn er jetzt eine drei plus nach Hause brächte, höre er von ihr, es hätte auch eine zwei sein dürfen. Er nimmt sie in Schutz, sie wolle ihn ja nur anspornen. Er spricht von ‚es ist alles zu viel‘. Er habe sein Smartphone gar nicht richtig genutzt, weil er auf den falschen Spicker geschaut habe.
Ich höre ihm aufmerksam zu und lasse seine Worte, seine Mimik und seine Gestik sacken. Ich lasse zu, wie ich seine Ehrlichkeit und Verzweiflung wahrnehme. Ich sehe ihn als Menschen, der gerade keinen anderen Ausweg wusste. Als Menschen, dem familiäre Wertschätzung fehlt und als Menschen, der im System Schule überfordert ist. Ein Mensch, der in der Klassenarbeit sein Smartphone in die Hand genommen hat, gegen die Regeln verstoßen und eine Täuschung versucht hat.
‚Danke für deine Offenheit und Ehrlichkeit. Ich schaue mir deine Arbeit an und werde mich erkundigen, wie meine Kolleg:innen verfahren würden. Und wir sprechen uns, wenn alle die Klassenarbeit zurückbekommen werden.
Ein fleißiger Schüler
Robert macht immer seine Hausaufgaben, hat ein ordentlich geführtes Heft dabei, er meldet sich oft im Anforderungsbereich I und II, er gibt sich Mühe und ist ein fleißiger Schüler. Ich weiß, dass ihm diese Situation äußerst unangenehm ist.
‚Nein, also er sollte schon wissen, dass ein Täuschungsversuch zu einer sechs führt. Und wenn du die Arbeit nicht wertest und er als nächstes eine drei schreibt, steht er schriftlich drei und dann kommt er damit durch. Aber, da es in der Mittelstufe ist, kannst du nach deiner pädagogischen Freiheit walten.‘
Die Klassenarbeit ist trotzt der Umstände (Corona & steigenden Anforderungen) erfreulich ausgefallen. Roberts Klassenarbeit ist mangelhaft. Täuschung hin oder her, seine Leistungen sind unter seinem sonstigen Niveau. Ich schreibe unter seine Arbeit, dass er während der Klassenarbeit sein Smartphone in der Hand hatte und ich dies als Täuschungsversucht mit der Note Mangelhaft werte. Nach der Stunde mit der Klassenarbeitsrückgabe nehme ich in mir zur Seite und bitte ihn, mit seiner Mutter bzw. seinen Eltern darüber zu sprechen und mir die Klassenarbeit unterschreiben zu lassen. Er bedankt sich wahrhaftig, dass ich seinen Täuschungsversuch nicht mit allen in der Klasse besprochen habe.
Zwischen Pflicht & pädagogischer Freiheit
Ja, ein Täuschungsversuch in unehrenhaft und verstößt gegen die Regeln. Aber hinter jedem Täuschungsversuch steckt ein Mensch, in diesem Fall ein junger Mensch. Ein Mensch, der seine Wertvorstellungen noch formt, der Menschen braucht die ihn wohlwollend begleiten. Ich will den Menschen sehen. Hinschauen, ihn begleiten und individuell meine pädagogische Freiheit nutzen.
Wäre Robert nicht Robert und hätte ich nicht seine Ehrlichkeit gespürt, hätte ich vielleicht anders gehandelt. Ich schätze, dass Robert sich später an diese emotionsgeladene Situation erinnern wird und ich hoffe, ich war ihm dabei eine gute Begleitung.